Roman Neustädter teilt die Welt. Für die einen ist er der intelligente Führungsspieler auf Schalke, für die anderen der Schwachpunkt. Persönlich zähle ich mich zu ersterem und bin immer wieder in Diskussionen mit Repräsentanten von letzterem verwickelt. Meist handelt es sich dann um eine Diskussion Meinung gegen Argumente. Doch zunächst einmal zu meiner Meinung: Neustädter ist wie Sergio Busquets vom FC Barcelona.

„Wenn Du Dir das Spiel guckst, siehst Du von Busquets nichts. Wenn Du Busquets beobachtest, siehst Du das ganze Spiel.“
Vincente Del Bosque

Ich will die beiden gar nicht auf eine Stufe stellen, auch wenn sie sich in vielerlei Hinsicht ähneln. Aber Neustädter und Busquets haben das gleiche Problem: Eine krasse Diskrepanz in der Wahrnehmung. Das liegt an der Art und Weise, wie Fußball geschaut wird. Ein kurzer Abriss der Wahrnehmung auf Schalke, wie sie mir in vielen Einzelgesprächen dargelegt wurde:

Bevor Neustädter im Sommer 2012 zu Schalke wechseln sollte hatte eigentlich noch niemand was von ihm gehört. Aus den Medien erfuhr man auf Schalke dann, dass er in Gladbach ein Schlüsselspieler gewesen sein soll. Nach seinen ersten Spielen in Königsblau fragte man sich dann allerdings wo dieser geniale Spieler denn sei, zu sehen ist davon schließlich nichts. Plötzlich hörte man durch die Medien, dass er eben doch toll sei und sogar Löw ihn einladen wolle. Das wurde zwar nicht ganz verstanden, stieß aber trotzdem auf Begeisterung. Im Anschluss an sein erstes Länderspiel sah man auf Schalke dann wieder nichts mehr von ihm. Jones daneben wurde zum Vorbild hochstilisiert und Löw verflucht, er habe Neustädter versaut. Dabei ist es bis heute geblieben. Man versteht nicht warum Neustädter überhaupt aufgestellt ist, schließlich beteiligt er sich kaum am Spiel und fällt, wenn überhaupt, nur durch Fehlpässe auf und dadurch, dass er orientierungslos auf dem Platz herumtrabt.

Der tut nichts fürs Spiel, außer Fehlpässe!

Roman Neustädter hat die meisten Ballkontakte auf Schalke, spielt die meisten Pässe und die sogar noch meistens zum richtigen Mann. Das ist natürlich nicht in jedem Spiel so. Manchmal hat ein Innenverteidiger eine höhere Passquote. Oder der andere 6er oder der 10er mehr Ballkontakte. Neustädter jedoch befindet für alle drei Statistiken bei praktisch jedem Spiel unter den besten Spielern auf dem Platz. Auf den Durchschnitt hat das die Auswirkung, dass Neustädter die meisten Pässe spielt (50,8 Pässe pro Spiel) und von allen Spielern mit mehr als 10 Einsätzen nur Höwedes (86,3% Passerfolge bei 41,9 Pässen pro Spiel), Draxler (84,5% bei 36,7) und Meyer (84,5% bei 27,1) eine höhere Passerfolgsquote haben als er (83% bei 50,8). Im Schnitt spielt Neustädter also lediglich 8,6 Fehlpässe pro Spiel.

Seine Fehlpässe sind dumm und potentielle Gegentore!

Jeder Fußballer auf der Welt ist kontinuierlich damit beschäftigt die Möglichkeiten zu eruieren und Risiken abzuwägen. Wenn ein Weltklassespieler auf einen Gegenspieler zuläuft, sieht er seine Mitspieler, seine Gegenspieler, weiß wo sich Tor und Ball befinden, geht dann die Möglichkeiten, die sich daraus für ihn ergeben, durch, bezieht das Risiko jeder einzelnen Aktion mit ein und trifft daraufhin eine Entscheidung. Spiele ich lieber einen komplizierten Pass, der vermutlich vom Gegenspieler abgefangen wird, oder spiele ich lieber einen sicheren Pass zurück und wir bauen das Spiel neu auf? Das Risiko, dass ein Ball abgefangen wird, ist immer gegeben. Manchmal ist es gering und manchmal hoch. Die Frage ist, wann möchte ich als Spieler welches Risiko eingehen?

80% aller Ballverluste im Spielaufbau (also, wenn die Außenverteidiger aufgerückt sind) enden im Gegentor. Das ist Plausibel, weil es weder viel Platz noch viele Verteidiger gibt um den Gegner am Abschluss zu hindern. Anders ist das natürlich in der Nähe des gegnerischen Tors. Der Abstand zum eigenen Tor und die Anzahl der eigenen Spieler bis dahin ist recht hoch und damit die Wahrscheinlichkeit des Gegentors relativ gering. Ein Ballverlust im Angriffsdrittel ist also weniger gefährlich als ein Ballverlust im Abwehrdrittel (siehe Fußballsprech für Drittel-Bezeichnungen). Gleichzeitig ist es aber auch sinnvoll und wichtig in der Nähe des gegnerischen Strafraums einen Fehlpass zu riskieren, weil nur so eine kompakte Verteidigung wirklich aufgebrochen werden kann. Schalke wurde oft dafür kritisiert, im Angriff nur auf Sicherheit zu spielen und nicht einfach mal etwas zu probieren. Die Devise muss also lauten: Die Risikobereitschaft soll mit Abstand zum eigenen Tor steigen.

Roman Neustädter: Gespielte Pässe pro Spielfeld-Drittel

Genau das ist im Spiel Neustädters deutlich zu sehen. Im Abwehrdrittel spielt er fast keine Fehlpässe (92% Passerfolg), die wenigen Fehlpässe (0,5 pro Spiel) ergeben sich meist aus Situationen, in denen er gar nicht hätte angespielt werden dürfen. Im Mittelfelddrittel spielt er das Gros seiner Pässe (etwa 2 von 3) bei einer Erfolgsquote von 86%. Die etwa 4 Fehlpässe von knapp 30 gespielten Pässen die hier beim Gegner landen sind nahezu ausschließlich Pässe die nach vorne gehen sollten um den Angriff anzukurbeln. Nur die wenigsten dieser Fehlpässe finden in der eigenen Hälfte statt. Pässe zur Seite oder nach hinten sind generell nicht davon betroffen. Im Angriffsdrittel schrumpft die Passerfolgsquote dann auf 73% mit etwa 4 Fehlpässen bei allerdings nur 14,5 gespielten Pässen. Diese Pässe sind fast ausschließlich geplante Risikopässe, die bei Erfolg zu einer Aussichtsreichen Position für einen Torabschluss oder eine Vorlage geführt hätten.

Nehmen wir mal das Spiel gegen Borussia Mönchengladbach aus der Rückrunde der vergangenen Bundesliga-Saison 2013/2014. Schalke tat sich hier schwer gegen das aggressive Pressing der Fohlen und kam fast nicht in die Nähe des Strafraums. Hier versuchte Neustädter insgesamt 80 Pässe von denen 67 einen Mitspieler fanden. Die Grafik zeigt, dass dabei so einige im engen Pressing des Gegners hängen blieben (5 kurze Pfeile). Alle 8 weiteren Fehlpässe gingen nach vorne und versuchten Räume zu öffnen oder zu erschließen. Alle diese Fehlpässe waren in unmittelbarer Nähe des gegnerischen Tors, also mit vertretbarem Risiko, weil der Nutzen sehr hoch gewesen wäre.

Roman Neustädters Pässe im Spiel gegen Borussia Mönchengladbach. Quelle: FourFourTwo
Roman Neustädters Pässe im Spiel gegen Borussia Mönchengladbach.
Quelle: FourFourTwo

Im Aufbauspiel lässt er die Innenverteidiger alleine!

Neustädter schafft es durch sein eigenes Stellungsspiel das Aufbauspiel anzukurbeln und gleichzeitig eine höhere Präsenz im Mittelfeld herzustellen. Der Trick ist dabei ganz einfach: Er kippt nicht ab. Besonders Jones nutzte dieses Mittel sehr häufig (siehe Bild ‚früher‘), er ließ sich zwischen die Innenverteidiger fallen, meist sogar ein Stück dahinter. Die Außenverteidiger konnten aufrücken und der andere 6er positionierte sich weiter vorne in der eigenen Hälfte. Die Angriffsreihe stand dann kurz hinter der Mittellinie. Dadurch bildete sich eine Situative 3er-Kette, welche die erste Angriffsreihe typischerweise relativ problemlos umspielen konnte.

33-rn_abkippen

Neustädter verzichtet fast komplett aufs abkippen und positioniert sich anspielbar in der Nähe des Mittelkreises (siehe Bild ‚heute‘). Nach wie vor besteht Überzahl: Zwei gegnerische Angreifer gegen drei Schalker, also Innenverteidigung und Neustädter. Allerdings stehen diese jetzt etwas anders gestaffelt. Für jeden Innenverteidiger steht nach wie vor die Option quer zu passen (jetzt zum anderen Innenverteidiger, nicht mehr zum 6er) oder auf den Flügel zum Außenverteidiger. Gleichzeitig besteht aber noch die Möglichkeit diagonal nach vorne auf Neustädter zu spielen. In dem Fall ist der Ball dann bereits im Mittelkreis, der Rest der Mannschaft kann also von vornherein weiter aufrücken. Diese Option mag riskant erscheinen, ist sie aber auf Grund der gegebenen Spielstärke nicht. Matip, Höwedes und Ayhan sind sehr spielstark und können gute Pässe spielen. Sie können sich gut vom Gegner absetzen und dem Nebenmann das Zuspiel erleichtern. Neustädter dazwischen würde das Aufbauspiel nicht wesentlich verbessern. Der einzige Effekt wäre, dass im Mittelfeld eine Person weniger steht und daher die ganze Mannschaft nicht so weit aufrücken kann.

Schalke ist aber übrigens nicht das einzige Team, das die Spielstärke der Innenverteidiger fürs Aufbauspiel nutzt. Bei der WM war gut zusehen, dass nur die wenigsten der 4er Ketten noch mit einem regelmäßig abkippendem 6er spielen. Besonders Deutschland hat ebenfalls darauf verzichtet, Schweinsteiger stand (ähnlich wie oben beschrieben Neustädter) in der Nähe des Mittelkreises anspielbereit.

Der steht doch immer nur in der Gegend rum!

Die große Stärke Neustädters ist es Räume zu erkennen. So kann er diese schon früh besetzen und für den Gegner schließen. So erkennt er Räume, die seine Mitspieler noch gar nicht bemerkt haben. Nicht selten verlagert er das Spiel und schickt einen Spieler durch einen geschickten Pass in eine Lücke des Gegners. Gut zu erkennen sind oft Pässe, die der Außenverteidiger in den Fuß erwartet, sich dann aber noch sputen muss den Ball zu erreichen und plätzlich unglaublich viel Raum zur Verfügung hat. Kolasinac hat speziell in der Rückrunde sehr häufig von solchen Pässen profitiert und hat die passenden Fähigkeiten um sie dann auszunutzen.

Tatsächlich schafft er durch solche Pässe Situationen und lenkt das Spiel, wie es nur wenige beherschen. Das Bild vom Strippenzieher liegt hier sehr nahe, denn nicht selten finden sich seine Mitspieler plötzlich in Situationen wieder, ohne so recht zu wissen, wie sie da rein gekommen sind.

Aber er steuert nicht nur den eigenen Angriff, sondern auch den des Gegners. Er steht immer so, dass er Angreifer blockiert. Auch hier ist sein Auge für den freien Raum unschlagbar. Er erkennt wo gegnerische Angriffe herführen können und besetzt die Räume. Damit vereitelt er zuspiele, bevor sie überhaupt stattfinden. Der Aktionsradius ist ungemein groß, auch wenn es manchmal vielleicht nicht so scheint. Neustädter arbeitet sehr geschickt mit seinem Deckungsschatten.

Ach, komm… geh!

Roman Neustädter ist der Intelligent Leader von Schalke 04. Seine abgeklärte Ruhe und die Leichtigkeit in seinem Spiel lassen ihn unscheinbar wirken. Tatsächlich jedoch ist er Schlüsselspieler. Die Daten und Beispiele oben belegen das ganz gut.

Übrigens gibt es einen Grund, warum er fast nie grätscht. Wer grätscht liegt anschließend auf dem Boden rum, muss sich erstmal wieder aufrappeln und Geschwindigkeit aufnehmen. Der Gegenspieler kann in der Zeit allerdings schon über alle Berge sein. Der Versuch dem Gegner den Ball abzulaufen oder zumindest bei Pässen zu behindern ist also immer vorzuziehen.

Mein Tipp: Einfach mal ein Spiel lang konzentriert auf Roman Neustädter achten. Wo er steht, wie er sich im Raum bewegt und damit Anspielmöglichkeiten und Spielsituationen vereitelt, bzw. kreiert. Wo er welche Pässe spielt und was er damit bezweckt. Einen Fehlpass zu erkennen ist leicht. Den Zweck dahinter zu erkennen macht Dich auch zum Fan.
Versprochen. 🙂

10 Replies to “Roman Neustädter, Fußballgott

  1. GEnial, vielen Dank für diese – für mich überraschende – Analyse. Nach dem Lesen werde ich Neustädters Spiel beim nächsten Mal mit anderen Augen beobachten müssen! Irgendwie ist auch dieses Blog und dieser Artikel ein bisschen wie Neustädter 😉 Kompliment. Da werde ich als Schalker tatsächlich froh, auch solch einen bescheidenden Fußballgott bei uns im Team zu haben; wo gibt’s das heute noch? Das mit der unterschiedlichen Wahrnehmung ist ein interessanter Aspekt, warum ist das so?

    PS: Im Grafik 1 müssten die 73% aus dem Angriffs-Drittel stammen

    1. Vielen Dank für die netten Worte. 🙂

      Ich glaube tatsächlich es liegt daran, wie jeder einzelne ein Fußballspiel guckt. Der Fokus liegt ja auf Höhepunkten. Was auch immer das ist. In der Sportschau wird etwa immer nur das Tor gezeigt. Vielleicht noch die Vorlage. Dass der Vorlagengeber aber nur durch eine großartige Spielverlagerung eingesetzt wurde sieht der Zuschauer da selten. Dementsprechend wird der nicht wahrgenommen.

      Ganz ähnlich ist das ja auch im Stadion. Fehlpässe bleiben eher im Gedächtnis hängen, als einfache Pässe die ankommen. Außerdem nehmen wir zwar den Passspieler wahr, wenn er einen Fehlpass spielt. Wenn der Pass aber erfolgreich war, wird meist nur der Passempfänger wahrgenommen. So funktioniert unser Gehirn nunmal.
      Da helfen aber Statistiken. Wenn ich sage, dass Neustädter die meisten Pässe spielt und dabei noch die beste Erfolgsquote hat, gibt’s zum Teil lustige Reaktionen. 🙂

  2. „80% aller Ballverluste im Spielaufbau (also, wenn die Außenverteidiger aufgerückt sind) enden im Gegentor.“

    Hast du dafür eine Quelle?

    1. In dem Buch „Erfolgreiches Angreifen“ berichten die Autoren Reimöller & Voggenreiter von einer Studie der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. In dem Zusammenhang berichten sie von eben diesen 80%. Leider haben sie da keine Quellenangabe drin. Das habe ich einfach so übernommen. Mir als Akademiker ist das peinlich.

      Meine fahdenscheinige Ausrede: Letzlich ist die Prozentzahl ja auch egal. Die Gefahr eines Gegentors ist unglaublich hoch, weil wenig Personal da ist es zu verteidigen.

  3. Schöner Artikel. Habe schonmal an anderer Stelle dieselbe Meinung zu Neustädter gelesen. Ich denke, viele 6er haben das Problem, dass sie ihre Arbeit weniger auffällig verrichten als Spieler auf anderen Positionen. Michael Carrick bei Manchester United ist auch so ein Beispiel. Räume zulaufen, Anspielpositionen des Gegners ausschalten – solche Dinge werden von den meisten Fans nicht gesehen.

    Mich stört im Text allerdings ebenso die Aussage, dass 80 Prozent aller Ballverluste im Spielaufbau zum Gegentor führen. 4 von 5 Angriffe wären dann erfolgreich, das kann ich mir nicht vorstellen. Selbst wenn es bei der WM in Südafrika so gewesen ist, dann ist die Datenbasis viel zu klein für eine solche Aussage. Klar ist aber natürlich, dass diese Ballverluste besonders oft zu Gegentoren führen. Da fällt mir etwa die von Ralf Rangnick in Auftrag gegebene Studie ein, laut der im Angriffsdrittel gewonnene Bälle bei Torabschluss innerhalb von 10 Sekunden eine sehr gute Erfolgswahrscheinlichkeit haben.

  4. Schön geschriebener Artikel. Sein Verständnis ist wirklich gut, auch die Art der Pässe (fast mit leichtem Backspin) sind wirklich gut zu verarbeiten. Nichtsdestotrotz sind allerdings sein direktes Zweikampfverhalten, Sprintgeschwindigkeit und auch manchmal das Passtiming von ihm zu schwach.
    Hatte zuletzt auch einen Beitrag über Jose Pozo gelesen, der 19 Jährige von ManCity, der im Angriffsdrittel 96 (!) Prozent erfolgreiche Pässe anbringt und trotzdem vollkommen wirkungslos blieb, da er gleichzeitig jeden direkten Zweikampf 1 vs 1 verlor.
    Neustädter ist mit Sicherheit unterbewertet, aber für mich reichen starkes Stellungsspiel und ein ruhiger erster Pass nicht aus. Sowohl Khedira, Bender, Alonso, Kroos und auch Busquets haben alle noch weitere Qualitäten.

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