Am Schalttag 2016, einen Tag nach der Null-Nummer in Frankfurt, treffe ich Roman Neustädter, kurz nach der Videoanalyse eben jener Partie. Im angenehm freundlichen Gespräch wird schnell klar, dass er Fußball quasi akademisch durchdringt. Immer wieder greift er dafür zur Taktiktafel und erläutert sein Spiel sowie seine Gedanken dazu.

interview-neustädterHalbfeldflanke: Du bist auf Schalke lange 6er gewesen, hast dann eine Zeit lang zwischen der 6 und der Innenverteidigung gewechselt und bist jetzt hauptsächlich in der Innenverteidigung. Wie ist das gekommen?

Roman Neustädter: Als ich zu den Profis in Mainz gekommen bin, war ich Innenverteidiger unter Jürgen Klopp, weil ich ja groß bin und mein Vater auch Verteidiger war. Aber das nur da im Training, bei den Amateuren war ich eigentlich immer auf der 6. Dann wurde Jörn Andersen dort Trainer. Bei meinen Einsätzen während der Hinrunde war ich auch hauptsächlich Innenverteidiger. Das dritte oder vierte Spiel in der Rückrunde war dann in Osnabrück, das weiß ich noch genau, da verletzte sich ein Stürmer und dann hat Andersen umgestellt: Markus Feulner von der 6 nach vorne und mich hat er dafür auf der 6 gebracht. Hat mich eigentlich ein bisschen verwundert, weil ich auch nur als Innenverteidiger trainiert habe, aber von da an lief es halt auf der 6.

Dann bin ich zu Gladbach, wo ich am Anfang auch nur ein paar Kurzeinsätze hatte. Bei den Amateuren habe ich dann links außen gespielt. Das Ziel war ja eigentlich, dass ich mir dort Spielpraxis und Selbstvertrauen für die Profis hole, aber ich spiele ja sonst nicht außen. Ich hab dann zu Michael Frontzeck, der damals Trainer bei den Profis war, gesagt: „Wir wissen doch beide, dass ich niemals links außen spielen werde.“ Danach wurde es besser, so dass ich bei ihm auch schon zu Einsätzen kam.

Halbfeldflanke: Und dann wurde Lucien Favre Trainer…

Roman Neustädter: Genau. Das wurde dann ja quasi mein Fußballerischer Ziehvater. In der ersten Zeit haben wir im Training viel 11-gegen-11 gespielt. Er wollte sich ein Bild verschaffen, was den Leistungsstand und die taktischen Fähigkeiten der einzelnen Spieler angeht. Ein Fitnesstrainer hat mir später gesagt, dass Favre da viel vor sich her genuschelt hat: „Boah, der Neustädter, der kann, der versteht alles…“ Ab da hab ich bei ihm immer gespielt. Egal wie und was, er hat immer einen Platz für mich gehabt. Und als ich dann zu Schalke gegangen bin, hat er das ja öffentlich als herben Verlust bezeichnet, als wenn Barcelona auf Xavi verzichten müsste. Das ist natürlich schon eine große Ehre, wenn so jemand das über einen sagt.

Halbfeldflanke: Ganz schön viele Umstellungen für Dich. Wie lange brauchst du um dich auf eine der beiden Positionen einzustellen?

Roman Neustädter: Ich denke schon, dass ich das inzwischen von jetzt auf gleich kann. Ich hab da schließlich schon viel Erfahrung gesammelt. Beim Spiel in London gegen Chelsea (siehe Analyse zum Spiel) hat mir Jens Keller damals auch nur einen Tag vorher im Vorbeigehen gesagt, dass ich Innenverteidiger sein soll. „Wie, Innenverteidiger?“, fragte ich. „Hast du doch schon mal gespielt, oder?“ „Ja, vor 5 Jahren zuletzt.“ „Na siehst’e“, antwortete er ganz trocken, „kein Problem“. Ab da ist das dann bei ihm halt so geblieben.

Unter Roberto Di Matteo habe ich dann wieder erst auf der 6 gespielt, dann mit dem Wechsel zur 5er Kette wieder hinten. Dann wieder vor der 5er Kette auf die 6. Aber da hatte ein 6er natürlich ganz andere Aufgaben als sonst. Es ging halt eher ums zerstören und hatte nichts mehr mit dem Spielaufbau zu tun. Und jetzt unter André Breitenreiter bin ich jetzt ausschließlich Innenverteidiger und trainiere auch nur als Innenverteidiger.

Halbfeldflanke: Was macht für dich den Unterschied zwischen den beiden Positionen aus? Und was spielst du lieber?

Roman Neustädter: Mich juckt‘s schon mehr auf die 6, weil man da mehr Aktionen hat, man ist mehr im Spiel drin, stärker beteiligt. Als Innenverteidiger leitet man zwar meist die Angriffe ein, aber du bist natürlich nicht so mitten im Geschehen, wie das beim 6er der Fall ist. Auf der 6 hast du auch viel mehr Einfluss und Möglichkeiten. Als Innenverteidiger kannst du nicht mal eben in die Mitte laufen. Du kannst zwar versuchen die Leute zu dirigieren, aber so viel Zeit hat man ja meistens nicht. Ich muss halt immer den Stürmer zu stellen. Auch Verlagerungen kann man von da aus kaum spielen. Wenn der Außenverteidiger dich hinten anspielt, bis du den Diagonalball gespielt hast, ist der freie Raum wieder zu.

Halbfeldflanke: Du bist über all die Jahre ja eigentlich immer gesetzt. Das heißt aber auch, dass Deine Nebenleute häufig wechseln. Sowohl auf der 6 als auch in der Innenverteidigung hast du vermutlich in allen erdenklichen Kombinationen auf dem Platz gestanden. Wie stellst du dich auf die anderen ein?

Roman Neustädter: Das federe ich durch das tägliche Training ab. Dadurch kenne ich die Spielart meiner Kollegen, deren Stärken und Schwächen, und versuche mich dann bestmöglich auf meinen Partner einzustellen. Wenn ich zum Beispiel mit Kevin (Prince Boateng) gespielt habe, wusste ich, dass ich gar nicht nach vorne darf, weil sonst alles auf ist. Bei Jermaine (Jones) musste ich auch immer gucken, dass ich die Räume zu mache… (lacht) Jeder hat nun mal so seinen eigenen Spielstil.

Aber sich auf jemanden einzustellen dauert nicht so lange. Natürlich, je länger man zusammen spielt, desto besser geht das. Wie mit Joel (Matip) in dieser Saison etwa in der Innenverteidigung. Du spielst dich halt ein und verstehst dich dann irgendwann blind. Dann weißt du genau wann er für dich absichert, wann du ihn absicherst. Wann du mal raus kannst, wann er mal raus kann. Das ist natürlich einfacher, wenn du eingespielt bist, aber wenn da ein neuer Spieler ist, dann funktioniert das nach 2-3 Spielen schon ziemlich gut.

Besonders auf der 6 ist es natürlich wichtig aufeinander eingestellt zu sein. Ich spiele ja sehr oft direkt oder versuche den Ball mit einem Kontakt direkt weiter zu leiten, damit wir die Druckphase des Gegners überbrücken können und mein Partner dann Zeit hat nach vorne zu gehen. Wenn ich auf der 6 den Ball dann vom Verteidiger oder vom Außenverteidiger bekomme, ist es natürlich wichtig, dass ich weiß wo meine Mitspieler stehen, damit wir nicht zu viel Zeit verlieren.

Halbfeldflanke: Es fällt immer wieder auf, dass verschiedene 6er unterschiedlich abkippen. Du zum Beispiel fast gar nicht. Kannst du Deine Sicht dazu schildern?

Roman Neustädter: Durch das abkippen versucht man ja überzahl zu schaffen. Mit dieser 3er Kette können dann die ersten beiden gegnerischen Spieler überspielt werden. Meiner Meinung nach hat man dann aber einen Spieler zu wenig im Mittelfeld. Der abkippende 6er kann einfach die ganze Breite nicht belaufen oder zustellen. Wenn du dann den Ball verlierst ist das Risiko sehr viel höher, dass du Dir einen Konter fängst, wo der Gegner gut zum Abschluss kommt, weil du einfach in den Mannschaftsteilen viel zu weit auseinander bist… (fängt an auf der Taktiktafel rum zu schieben)

abkippender-6er

Die Außenverteidger stehen hoch, die Innenverteidiger stehen breit, und der 6er sehr tief. Dann hast du die wichtigen Räume frei, weil keine Spieler mehr da sind. Der andere 6er steht noch in der Mitte, aber ich finde so kommst du nicht schnell genug nach vorne. Und der andere steht ganz hinten. Bis der wieder Anschluss gefunden hat… Außerdem bist du total offen, weil die Flügel so leicht zu isolieren sind. Die Außenverteidiger kommen nicht schnell genug zurück und wenn dann einer noch überdribbelt wird, stehst du plötzlich nur noch mit zwei Mann hinten. Die anderen müssen zurücklaufen, aber der Gegner startet durch.

Daher finde ich, dass der 6er gar nicht so viel abkippen, sondern sich immer auf der Höhe der Stürmer positionieren sollte. Wenn der Pass dann da kommt, dann können die Innenverteidiger sich strecken und dann sind die Stürmer auch überspielt. Außerdem bist du in der Mitte und der andere 6er kann sich dann mit dem 10er da auch zeigen und dann hast du alle Räume besetzt.

Das hat mir Favre auch beigebracht: Als 6er immer die Ballinie zu halten, also auf Höhe des Balls zu bleiben. „Warum willst du weiter vorne sein?“, meinte er „wenn wir den Ball verlieren bist du raus. Bleib da. Erstens kannst du hier immer helfen und zweitens, wenn der Gegner einen Fehlpass spielt, bist du da zum Attackieren oder direkt zustellen.“ Er wollte auch nie, dass die 6er viele Läufe in die Tiefe machen. Er hat gesagt: „Ich brauch euch da hinten. Wir haben die Stürmer, wir haben die Außen… 4 Stück vorne, das muss reichen.“

Halbfeldflanke: Du bist jetzt mit 28 Jahren und schon einer der ältesten in dieser jungen Mannschaft auf Schalke. Wie teilst du dein Wissen und deine Erfahrungen mit den anderen im Team?

Roman Neustädter: Schon komisch mit 28 einer der ältesten zu sein. (lacht) Ich versuche natürlich viel mit den jüngeren Spielern zu reden, auch wenn’s nicht positionsgetreu ist, wie mit Leroy (Sané), Leon (Goretzka), Max (Meyer) oder Thilo (Kehrer). Da tauscht man sich natürlich auch aus. Ich gebe natürlich auch gerne Tipps, grad an Thilo, der ja auf den gleichen Positionen unterwegs ist wie ich, oder Marvin (Friedrich) oder bis vor kurzem noch Marcel Sobottka. Klar, es ist jetzt die nächste Phase angekommen, in der du keine Tipps mehr annehmen, sondern halt mehr geben musst. Ist schon eine Umstellung, aber unsere jungen Spieler nehmen das gut auf. Ich versuche halt meine Sicht darzulegen und ihnen weiterzugeben. Was sie dann daraus machen liegt natürlich bei jedem selbst, aber ich versuche da zu sein.

Halbfeldflanke: Wie funktioniert das auf dem Platz, während des Spiels? Coacht ihr euch untereinander?

Roman Neustädter: Naja, man kann ja nur die direkten Nebenleute steuern. Mit Joel bin ich inzwischen sehr gut eingespielt, da brauchen wir eigentlich gar nicht mehr viel sagen. Das sind dann eher so Sachen, wie wenn da jemand von hinten reingelaufen kommt und der andere das nicht sehen kann oder sowas.

Wir coachen uns hauptsächlich untereinander indem wir uns gegenseitig darauf hinweisen von wo der Stürmer kommt, wo Löcher sind und wie wir Gegenspieler übergeben. In der Aktion selbst ist sowas immer schwer, weil die Zeit nicht einfach da ist. Wir bleiben meist direkt am Mann, wenn wir uns dann erst noch absprechen wollten, rauszurücken und auf Abseits zu spielen oder so, dann ist es auch schon wieder zu spät.

In den letzten Spielen stellen wir die Passwege zu den Stürmern besser zu. Davor standen wir hinten oftmals 1-gegen-1, was ja auch kein Problem ist, aber natürlich ein höheres Risiko. Ich finde defensiv stehen wir eigentlich richtig gut. Joel ist ein sehr intelligenter Spieler, der sehr viel mit Auge macht und ein sehr gutes Stellungsspiel hat. In dieser Saison haben wir uns bei Gegentoren noch nie so richtig ausspielen lassen. Das sind dann meist Konter, oft auch bedingt durch dumme Ballverluste, oder aber natürlich Standards, aber das uns mal jemand richtig her gespielt hat, gab es eigentlich nicht.

Halbfeldflanke: Wieviel Einfluss hast du als Spieler während des Spiels auf die taktische Vorgabe des Trainers?

Roman Neustädter: Das finde ich auch ein interessantes Thema, diese Vorgaben vor dem Spiel. Ich finde halt im Spiel ist es immer anders als man vorher sagt. Bei einer Videoanalyse hatten wir letztens Aaron Hunt. Der macht alles mit Links, hieß es. Immer. Plötzlich im Video schießt der ein Tor mit rechts. Macht natürlich 99% mit links, aber im Spiel weißt du eben nie wie es dann kommt.

Wenn wir sagen wir attackieren hoch, dann machen wir das natürlich am Anfang. Wenn wir sehen, dass es gut funktioniert machen wir das weiter. Ist aber natürlich auch klar, dass wir das nicht über 90 Minuten durchziehen können, sondern lassen uns vielleicht nach den ersten 15-20 Minuten ein bisschen fallen und ziehen vielleicht die letzten 10 Minuten wieder hoch. Es ist halt immer Situationsabhängig, wie das Spiel verläuft. Hast du Chancen, führst vielleicht schon 1:0, oder ist der Gegner verunsichert, dann gehst du eher noch 5 Minuten drauf. Wenn dann nichts ist, dann lässt du dich vielleicht eher fallen, spielst wieder ein bisschen mehr auf Konter oder so.

Die Analysen finde ich immer sehr gut. Es ist natürlich auch wichtig zu wissen wo die Stärken und Schwächen des Gegners sind, aber im Spiel kommt es trotzdem oft anders. Eigentlich spielt der Angreifer immer nach links und plötzlich in die Mitte, oder der Stürmer bewegt sich plötzlich anders, entscheidet sich anders…

Ich finde es wichtig, da sehr variabel zu sein und gut auf das reagieren zu können was auf dem Platz geschieht, statt sich nur an die Vorgaben zu halten. Da haben wir sicherlich noch Defizite. Auch mit dem Ball. Mal was Überraschendes, Kreatives probieren, oder eine Überzahlsituationen schaffen.

Halbfeldflanke: Wie sprecht ihr euch dabei ab?

Roman Neustädter: Das kommt meist nicht von außen, das machen wir mit den Jungs auf dem Platz. Wenn wir sehen, dass die anderen den Ball nur noch ins Aus schlagen, sobald wir sie vorne zustellen, oder wenn sie den Ball dann nur unkontrolliert nach vorne schlagen und wir den Ball gewinnen, dann gibt uns das natürlich allen ein gutes Gefühl. Wir merken dann, wir sind im Spiel, wir sind aktiv drin und machen das natürlich auch so weiter. Aber sobald du dann merkst, dass die Kräfte etwas schwinden und du es nicht mehr schaffst so Druck auszuüben wie zuvor, dann sagst du halt okay, lass uns ein bisschen tiefer fallen lassen und von weiter hinten attackieren. Dann lassen wir sie halt in die Zone kommen und gehen dann drauf. Das müssen wir noch besser hinbekommen.

Oft ist es halt so, dass es von den Spielern, die als erstes attackieren müssen, kein richtiges Signal gibt wann alle draufgehen sollen. Das macht es natürlich für alle anderen schwer. Wenn der Gegner nämlich keinen richtigen Druck hat, kann er den Ball hin spielen, wo er will. Und bei uns weiß keiner so recht, rückt der andere jetzt raus oder nicht, kann ich drauf schieben oder macht der andere das schon und ich bleibe besser hier… Wenn einer den Anfang macht, mit seiner vollen Körpersprache, dann wissen alle was zu tun ist und dann weiß auch jeder, dass vielleicht nicht der erste, aber dann der zweite oder dritte und spätestens der vierte dann den Ball hat.

Wir trainieren das ja auch so. Wir zeigen viel auf Taktiktafeln wann wer wie wo drauf gehen muss und im Training üben wir das dann ein, defensiv wie offensiv. Also defensiv im Pressing, wie wir dann drauf gehen. Vielleicht lassen wir einen Verteidiger frei und der wird dann so angelaufen, dass er den Ball nur noch in die Mitte spielen kann, oder nach außen. Das ist aber natürlich Gegnerbedingt, also wie die Gegner dann spielen. Das wird vor jedem Spiel immer auf die jeweilige Mannschaft trainiert, so dass jeder weiß, wo er hinzulaufen, wo er zu attackieren hat.

Halbfeldflanke: Du hast schon ein paar Dinge angesprochen, die noch Verbesserungswürdig sind bei euch. Daher noch ein Blick auf die aktuelle Lage. Die letzten Spiele sind eher suboptimal gelaufen. Woran liegt’s?
(Anmerkung: Das Interview wurde kurz nach dem 0:0 in Frankfurt geführt, vor den Spielen gegen Hamburg und in Köln, in denen es schon wieder deutlich besser lief.)

Roman Neustädter: Meiner Meinung nach haben wir das Problem, dass wir oftmals zu weit auseinander stehen und zu statisch in unserem Spiel sind. Wir sollten mehr versuchen den 10er ins Spiel zu bringen und darüber direkt nach vorne gehen. Ich finde bei uns ist es noch zu häufig Ball annehmen, drehen und gucken. Das ist aber nicht schnell genug. Das müsste zack, zack, zack gehen. Das trainieren wir auch, aber es ist klar, dass sowas nicht von heute auf Morgen funktioniert. Da gehören auch Selbstvertrauen, auf einander eingespielt sein und alles dazu. Aber so geht es zu langsam und der Gegner kann sich ohne großen Aufwand sortieren. Wie schon gesagt, wir müssen mehr an unserer Variabilität arbeiten und darüber Überzahlsituationen erzeugen.

Ich weiß das aus eigener Erfahrung, es ist das schlimmste für einen Verteidiger, wenn er nicht genau weiß: „Soll ich jetzt mit dem einen mit oder bleib ich bei dem anderen?“ In solchen Drucksituationen ist es viel Wahrscheinlicher, dass man die falsche Entscheidung trifft oder die richtige, aber 2 Sekunden zu spät. Dann brauchst du erstmal wieder Zeit dich zu orientieren und so. Das kann ein Angriff natürlich ausnutzen. Solche Situationen erzeugen wir aber meiner Meinung nach noch zu wenig: Den Gegner massiv unter Druck setzen und Überraschungsmomente erzeugen.

Manchmal wirkt es auf mich aber auch so, als spielen wir auf Teufel komm raus nach vorne. Meiner Meinung nach sollten wir hier geduldiger sein. Manchmal musst du einfach gucken, wenn es rechts nicht geht, dann nimm den Ball und verlagere nach links. Wenn es da nicht geht, dann verlagere halt wieder zurück. Solange du den Ball hast, kann dir eh nix passieren. Wenn du dann aber vorne nur 1-gegen-3 bist oder so, dann brauchst du den Ball doch nicht vorne rein spielen. Der kann da vorne doch eh nix mit dem Ball machen. Klar, das Publikum wird sehr schnell unruhig… Wenn wir aber den Ball 5-6 Mal hin und her verlagern und sich dann irgendwo eine Lücke bietet und wir dadurch am Ende 2:0 gewinnen, schimpft auch niemand mehr.

Halbfeldflanke: Was hat sich mit Breitenreiter auf Schalke verändert?

Roman Neustädter: Wir haben uns als Mannschaft im taktischen Bereich auf jeden Fall verbessert. Wir versuchen mehr Fußball zu spielen und nicht sofort bei Gegnerdruck den Ball nach vorne zu schlagen.

Gerade bei Abstoß gelingt es uns ganz gut uns heraus zu kombinieren. Auch wenn der Gegner uns zustellt. Im offensiven Bereich lässt er uns sehr viel Freiheit. Dadurch können unsere kreativen Spieler eigene Ideen kreieren und für Überraschung sorgen. Klar ist das noch ausbaufähig, aber es läuft in die richtige Richtung.

Generell ist er ein positiver Typ, der immer nach vorne schaut und uns verbessern möchte. Er redet viel mit uns Spielern und möchte auch Feedback, das weiß ich sehr zu schätzen.

Halbfeldflanke: Zum Schluss nochmal zurück zu Lucien Favre. Du hast zu Beginn unseres Gesprächs gesagt, dass ihm deine Spielweise gefallen hat. Er hat dich aber auch sehr geprägt, oder?

Roman Neustädter: Ja, voll. Er hat mich nach einer Grätsche mal angepfiffen: „Bist du verrückt?! Hör auf zu grätschen! Du bist raus aus dem Spiel, du kannst nicht mehr eingreifen und wir sind einer weniger!“ Wofür soll ich denn grätschen? Nur damit alle denken ich hab Einsatz gezeigt?

Oder einmal, in einem Spiel unter Favre… (greift wieder zur Taktiktafel)

raum-deckungDa hat der 6er hier den Ball bekommen und ich bin drauf gegangen. Der hat dann einen Haken gemacht, ist dann so leicht vorbei, ich ging nach und dann hat der den Ball zum Glück zurück gespielt. Nächsten Tag hat Favre mir die Einzelanalyse der Situation nochmal in seinem Büro gezeigt und gefragt: „Warum rennst du hier drauf?“ Sag ich, dass ich den Ball gewinnen wollte. Meint er: „Ja, aber geh doch hin und stell ihn.“ „Also  nicht attackieren?“ „Nein“, sagt er „für was willst du ihn denn attackieren? Der macht einen Haken und du bist weg. Das kann fast jeder in der Bundesliga. Stell ihn und zwar so, dass er den Ball nicht an Dir vorbei spielen kann.“ (zeigt auf der Taktiktafel) Dann ist der 6er hier zu, der 10er, Außenverteidiger… Da wurde mir klar, dass wenn ich stehen bleibe er den Ball nur noch zurück spielen kann.

Er hat mir in vielen Situationen wie diesen gezeigt, dass es wichtiger ist den Raum zu zu machen und sich nicht ausspielen zu lassen als jemanden in einen Zweikampf zu verwickeln. Es ist wieder die Geduldfrage. Warum soll ich da blind drauf gehen, wenn ich damit den Raum auf mache? Da kommst du immer zu spät. Ich muss mich erst drehen, der ist schon im Lauf. Seitdem mach ich nur noch die Räume zu, das ist mein Fußball. Viele Leute verstehen das halt leider nicht, aber ich hatte das Glück, dass Favre mich entsprechend einzusetzen wusste. Er hat meine Fähigkeiten verbessert und mich taktisch meiner Meinung nach auf ein extrem hohes Level gebracht. So hat er mir sehr viel mitgegeben und ich hab ihm sehr viel zu verdanken.

Halbfeldflanke dankt Roman Neustädter für ein sehr interessantes Gespräch.
Die Analyse zum Spieler: Roman Neustädter, Fußballgott
Das Interview führte Karsten Jahn.

27 Replies to “Mit Roman Neustädter an der Taktiktafel: Von Positionen und Räumen.

  1. der nicht veröffentlichte Teil des Gesprächs, über seine Zukunftsperspektive, hätte mich natürlich auch noch interessiert 😉
    ich hoffe sehr, er bleibt uns erhalten

  2. Saubere Arbeit, Karsten! Klasse Interview mit vielen interessanten Einblicken, zur Person Roman Neustädter und auch zu Favre. Ich mag ihn wirklich sehr gerne spielen sehen und hoffe, dass er im Sommer verlängert und noch einige Jahre auf Schalke bleibt. Ich finde ihn für die Mannschaft extrem wertvoll, aufgrund seiner Qualitäten auf der 6, in der Innenverteidigung, aber insbesondere auch als Mensch und Typ.

  3. Glückauf, Karsten. Hochinteressant… was für ein sympathischer und intelligenter Spieler. Dass er sich soviel Zeit nimmt, um über diese taktische Details zu sprechen – unglaublich! Unglaublich cool. Ich wünsche mir, dass er bleibt 😉

  4. Wirklich hochinteressant, aufschlussreich und toll, dass dieses Blog hier so etwas möglich gemacht hat.

    Was mich aber ein wenig hat stutzen lassen, war das hier:

    „Im offensiven Bereich lässt [Breitenreiter] uns sehr viel Freiheit. Dadurch können unsere kreativen Spieler eigene Ideen kreieren und für Überraschung sorgen.“

    Mit anderen Worten: Man verlässt sich komplett auf Bruder Zufall?! Und so etwas bei einem Bundesliga-Team im Jahr 2016. Weiß nicht, ob ich erleichtert oder betrübt sein soll.

    1. Wir sind da zwar so explizit nicht drauf eingegangen, aber so wie ich ihn verstanden habe, trainieren die gewisses gruppentaktisches Verhalten, haben aber die Freiheiten sich nicht sklavisch daran halten zu müssen. Im Gespräch hat er dazu etwa die Bayern erwähnt, bei denen die Spieler sich ja auch bei Gelegenheit immer mal wieder sehr von ihrer Position entfernen.

  5. Fantastisches Interview. Großartige taktische Einblicke, die Neustädter da teilt. Machen leider viel zu wenig Spieler (oder Trainer) öffentlich. Danke.

  6. Na, das ist ja vielleicht mal interessant, so ein Blick in die Taktiksteuerung vor Ort quasi.
    Ich hatte mal ein längeres Gespräch mit Skibbe dazu, falls den noch jemand kennt, das war genauso ernüchternd, was die taktisches Einflussnahme des Trainers während des Spiels angeht. Denn: Roman sagt ja hier, bei der Trainervorgabe „Pressen “ wird 20 Minuten gepresst und dann schaut die Mannschaft mal, ob das wohl klappt und hört tendenziell eher damit auf.
    Breitenreiter wiederum hat sich ja mal gefragt, warum die Mannschaft nur zu Beginn macht, was abgesprochen war und dann „in den altem Trott verfällt“ ( hier hat er unterschiedliche Formulierungen genutzt). Vielleicht hängt das ja irgendwie zusammen:).
    Interessant vielleicht auch hierzu die Arbeit von Elgert. Der schreit auch gerne während des Spiels mal über den Platz: „Du spielst jetzt tiefer, sonst fliegst zu raus.“ (Letztes Auswärtsspiel gegen Duisburg).
    Habt ihr sonst Infos/Erfahrungen zum taktische Coachen während des Spiels auf Bundesliganiveau?

  7. Ein klasse Interview! Meine Sicht (welche vorher auch nicht negativ war) auf RN hat sich noch mal „positiviert“. Toller Typ, mit was inner Birne.

    BW,
    ik

  8. Klasse Interview, welches einem die Spielweise von RN näher bringt und verständlich macht. Sollten einige Leute aus dem Stadion vll auch mal lesen…

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